15
Feb
2013

Auf dem Bahnhof.

Es ist kalt, denn schließlich ist noch Februar. Mühsam kämpfen sich ein paar Sonnenstrahlen durch das Wolkendickicht, kurz ist eine fast vorfrühlingshafte Wärme spürbar. Nach wenigen Minuten ist der Spuk vorbei, die Sonne gibt sich geschlagen im Kampf gegen die sturmgrauen Wolken. Wind pfeift unangenehm um die Ecke und trägt den Geruch von Zigaretten zu meiner Nase. Gleis 3, Intercity von Frankfurt nach Hamburg Altona, heute 15 Minuten Verspätung. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Winterjacke höher und vergrabe mein Kinn im Fleece.

Bahnhöfe.

Gibt es verrücktere Orte als Bahnhöfe? Hier treffen Züge ein und Menschen aufeinander, Weichen werden gestellt und Wege trennen sich. Ein Mann, Lisa-Marie, komm da bitte runter, zieht an seiner Zigarette, eine junge Brünette kramt in ihrem Eastpak, daneben ein Paar, sie, Tränen in den Augen, er, ihr etwas unbeholfen übers Haar streichend. Ein Betrunkener torkelt vorbei, wird von seinem Mitstreiter gestützt, der Zug auf dem Gleis gegenüber verschluckt die beiden Wankenden.

Kaffeeduft, Friteusenpiepsen, Rollkoffer auf den gefurchten Fliesen. Am Bahnhofe werden wir, getragen von den Wellen des Tags, angespült, bleiben hängen, verfangen uns an Wiener-Feinkost-Theken, DB-Schaltern, Gleisen und Rolltreppen. Angeschwemmt wie Strandgut werden hier Menschen, Leben, Geschichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Für einen Bruchteil der Sekunde vereint uns der Bahnhof, uns, ohne Namen, im Hier und Jetzt. Mich und den Banker und die Oma und den Obdachlosen. Nur für einen Augenblick, bis sich Zugtüren automatisch schließen, bitte zurücktreten. Fremde sind wir in der Gemeinsamkeit. Oder doch eher gemeinsam in der Fremde? Fremd und doch im Gleichtakt, eilend, rennend, wie er, mit dem roten Schal, noch zwei Stufen, ach, der hat Verspätung? – Ein erleichtertes Zulächeln von meinem Gegenüber. Ein Gefühl von Vertrautheit, ja, kenn ich, kommt auf.

Ich blicke auf die Uhr. Nur noch wenige Minute und ich verlasse diese Bühne dieses skurrilen und bittersüßen Stücks. Ein Bahnhof ist ein meisterlicher Regisseur. Wer sonst bringt auf so gekonnte Art und Weise Unpassendes zusammen? Die Menschenmenge auf den Gleisen, in der Halle, sind wie eine riesige, alte Patchworkdecke – bunt, zerschlissen vielleicht, an einer Ecke ausgebessert, oft schon fadenscheinig – und dennoch schön anzusehen. Oder besser: deshalb. So viele Geschichten könnten hier erzählt werden. Romanträchtig. Hollywoodreif. Ich betrachte die schwarz-graue Mantelmasse, fantasiere, wo ist wohl Lisa-Maries Mutter?, male mir aus, Wo haben sich die beiden wohl kennengelernt?, verwerfe, stricke neue Geschichten.

Gleis 3, Achtung, der Zug fährt ein. Es quietsch, es stinkt, der Zug hält. Für einen Moment steht die Zeit still; niemand bewegt sich. Dann springen schnaufend die Türen auf, Rennen, Eilen, die Bahn wieder, man, Fluchen, Schluchzer, noch einmal drücken, ich werde dich so vermissen, Lachen, ein seit-langem-wieder-in-die-Arme-Schließen, es ist so schön, dass ihr da seid. Chaos, Jacken- und Stimmengewirr, ein Kaleidoskop von Leben. Der Augenblick ist vorüber. Der Moment ist gekommen, an dem sich die einzelnen Lebensfäden abermals trennen werden, neu formieren, berühren und wieder zerfallen. Stetig ist nur das Unstete.

Ich steige ein in den Zug und verlasse die Bühne. Die, denke ich, ist hier noch frei?, vielleicht doch gar keine Bühne ist. Wo sonst außer auf Bahnhöfen gibt es derart authentische Menschen, so echt und so ungeschminkt? Menschen, die sich da freuen und weinen und lachen und leiden – und all das: öffentlich, als würde ihnen niemand dabei zuschauen?
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Über Juli

Schreiben, um das Flüchtige zu fixieren. Schreiben, um das Ungesehene zu beleuchten. Schreiben, weil ich nicht anders kann, als schreiben. Inspirationen, die mich überschwemmen im Alltag und im Vorrübergehen. Ich schreibe, verschreibe mich im wahrsten Wortsinn, ich bilde mir ein zu jonglieren. Ich schreibe über die Menschen, die ich kenne, über die, die ich nicht kenne, über die ich gekannt habe und die ich kennen werde. Ich schreibe für Gott und für jedes Detail, dass er so liebevoll geschaffen hat - so sehr, dass es nicht versteckt bleiben darf.

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